Einige Wochen nach den Präsidentschaftswahlen beginnt hier der sogenannte „Winter“. Es gibt keinen Schnee und auch sonst sind die Temperaturen nicht besonders winterlich, als Winter bezeichnet man hier einzig und allein das Steigen des Wassers im Fluss! Innerhalb von nicht einmal zwei Wochen ist das Wasser in ganz San Martin über die Ufer gelaufen und flutete nach und nach das ganze Dorf. Dabei ist interessant, das Wasser nicht nur vom Fluss aus steigt, sondern genauso schnell aus dem Wald kommt. Unter den Häusern wird normalerweise alles Mögliche aufbewahrt, Balken, Container, Motoren, Schläuche, Kleinkruscht, alles das, was wir in Deutschland möglichst weit nach hinten in den Keller räumen würden. Doch nass werden dürfen die Dinge auch nicht, so muss alles irgendwie im Haus eingelagert werden. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt und so landen Bretter die auf den Bachbalken, ein Paar Nägel und fertig ist der neue Speicher!
Da das komplette Gebiet nur einige Meter über dem Wasser liegt betrifft die Überflutung nicht nur die am Wasserliegenden Gemeinden sondern die komplette Region. Alle Tiere die nicht klettern können müssen große Strecken zurücklegen um einen trockenen Ort zu finden. Alle anderen, besonders das ganze Kleingetier flüchtet die Hausstelzen hoch. Ich beobachte ungefähr 100000 Ameisen bei ihrer Reise. Doch es sind nicht nur die harmlosen Ameisen, die kommen, eines Tages höre ich einen spitzen Schrei, ein Kind hat beim Spielen ein großes, gefährliches Skorpion entdeckt. Besonders für die kleinen Kinder ist diese Zeit gefährlich. Sie treffen beim Spielen auf große Spinnen, Kakerlaken und kommen mit dem Kot von Ratten in Kontakt. Als Tourist empfiehlt sich auch diese Zeit nicht besonders, denn Touren in den Urwald sind nicht nur schwierig wegen des hohen Wassers, sondern auch gefährlich!
Die sonst so fröhlichen Kinder, die immer draußen auf dem Weg spielen sieht, oder im Wald Früchte ernten sitzen jetzt den ganzen Tag im Haus und langweilen sich. Morgens macht es Spaß, ihnen zuzuschauen, wie sie mit dem Kanu zur Schule fahren, wenn sie nicht- wie so häufig wegen irgendwelchen Lehrertreffen ausfällt. Der Weg ist überflutet und unpassierbar. Selbst mit Gummistiefeln kommt man nach einigen Wochen nicht mehr von einem Ort zum anderen. Mit einigen Nachbarn beschließen wir einen Steg zu bauen und das können die San Martiner wirklich sehr gut: einige alte Balken und Pfosten werden mit der Machete angespitzt und in den Boden gerammt. Es ist sehr wackelig, doch erfüllt seinen Zweck, nun kann man wenigstens einige Häuser trockenen Fußes erreichen. Die Kinder rennen mit einer Leichtigkeit auf den Brettern hin und her, sie können sich komplett auf ihre Füße verlassen, beeindruckend! Nach der Schule schnappen sich die älteren Jungs ihren Speer und gehen entweder direkt vor der Tür im Garten oder auf dem Fluss angeln. Einmal hat mich der Sohn von Elvio mitgenommen. Wir sind zu seinem „geheimen“ Angelort, wie ihn hier jeder hat gefahren und auch ich habe mich mit dem Speer versucht. Es ist schwerer als gedacht, aber immerhin ab und zu mal hat sich ein Fisch in meine Wurfbahn verirrt!
Leider bringt der Südamerikanische Winter auch ein großes Pflanzensterben mit sich. Die ganzen tollen Früchte und Kochbananen ertrinken! Damit fällt ein großes Grundnahrungsmittel der San Martiner aus. Um nicht hungern zu müssen verarbeiten alle ihrer Yuka zu Farinhia um, wie das geht habe ich ja schon beschrieben und steht hier: http://beneunterwegs.blogspot.com/2011/03/die-verarbeitung-der-yuka.html
Doch was auch mir neu war, ist das man Yuka anscheinend auch konservieren kann. Man hebt ein ca. 1 Meter tiefes Loch aus. Dieses wir mit Bananenblättern ausgekleidet, die unbearbeitete Yuka hineingegeben und mit weiteren Blättern abgedeckt. Dann wird das Loch wieder zugeschüttet und ein Erdhügel daraufgesetzt. Dieser dient zum Abdichten und zur Wiedererkennung der „Speisekammer“. Auf diese Art und Weise soll man Yuka bis zu 3 Monaten Konservieren können und hat so die Möglichkeit in der Hochwasserperiode mal an was Frisches zu kommen. Die Bananenblätter sind so stabil und dicht, dass kein Wasser eindringen kann, von oben kommt weder Luft noch Licht, eine kreative Konservierungsmethode!
Diese Hochwasserperiode ist in der Regel jedes Jahr, kann jedoch unterschiedlich stark ausfallen. So gab es wohl letztes Jahr gar kein Hochwasser, dieses Jahr jedoch umso mehr, viele sprechen davon, dass dies der größte „Winter“ seit 15 Jahren sei! Auch in Nauta und Iquitos ist das Wasser in Hafennähe auf der Straße, in Nauta existiert er in der Form gar nicht mehr du auch in Iquitos ähneln die Straßen eher einem kleinen Venedig. Hier ist man auf so ein solches Hochwasser nicht vorbereitet, die Häuser haben keine „Stelzen“ wie in San Martin und so ist die erste Etage fast komplett unter Wasser!
Ich überlege mir, wie ich die „Winterzeit“ sinnvoll nutzen kann, denn meine Lampenarbeit lässt ja bekanntlich weiter auf sich warten. Ich habe aus Deutschland meine Slackline mitgeschleppt, ein Trendsport der auch in San Martin viele Anhänger findet! Zwischen der Küche, ein Anbau und dem Haupthaus ist sie aufgespannt, die Stelzen eignen sich wunderbar als Verankerung und jetzt kommen jeden Nachmittag jede Menge Kinder um Balancieren zu üben. Auch Sprünge üben ist weit aus ungefährlicher als im heimischen Killesbergpark, dank Wasser überall ist es wie ein 0,5 Meter Sprungbrett!
Als weiteren „Programmpunkt“ für drinnen habe ich mir überlegt, mich bei einem Freund zu revangieren: er lädt mich immer auf eine frisch geerntete Kokosnuss von seinem Baum direkt vor dem Haus ein. Die sind wahnsinnig lecker und bis obenhin voll mit Kokosmilch Ich habe ein Bild von ihm als Schablone umgewandelt und in Iquitos drucken lassen. Nicht auf Papier oder Karton - sondern auf eine Folie, die eigentlich für riesige Poster gedacht ist. Sie ist reißfest und kann nass werden, ohne dabei kaputt zu gehen. Ein entscheidender Vorteil bei der hohen Luftfeuchtigkeit, es hat sich sehr bewährt und er kann sehr stolz auf seine erste Schablone sein! Es war übrigens sehr schwer ihm zu erklären, was Schablonen überhaupt sind und er konnte sich nicht vorstellen, wie ein Bild daraus entstehen kann, doch umso größer war die Überraschung! Jetzt gibt es schon Großaufträge, jeder will ein Bild von sich. Auch Tiere will man ausschneiden, dann auf T-Shirts drucken und an Touristen verkaufen, eine gute Geschäftsidee, der ich so bald wie möglich nachkommen will.
Vor drei Wochen war Ostern, ein Fest, das dank der staken Religiosität hier im Dorf deutlich ausgeprägter gefeiert wird, als wir das in Deutschland gewohnt sind. Mal abgesehen davon, dass Eiersuchen unter Wasser ein bisschen schwierig ist, ist dieses Osterfest von unzähligen Zeremonien und Kirchgängen begleitet. Auch Aberglaube spielt eine große Rolle, so wurde mir am Karfreitag ganz ernst erzählt, dass ich heute auf keinen Fall mit dem Kanu rausfahren darf, weil ich sonst von einem Monster in die Tiefe gezogen würde. Kein Fisch, Fleisch so wie so nicht und als ich erkläre was Maultaschen sind und warum wir sie an Kar Freitag essen, schüttelt man nur den Kopf und sagt, ich würde Graue Haare bekommen! Davor hat hier jeder Angst, früh graue Haare zu bekommen ist ein Fluch. Am Tag vor Ostern bin ich dann mal mit zu einer Zeremonie, wir sind mit dem Boot bis ziemlich zum Ende des Dorfes gefahren, laufen ist ja gerade nicht möglich. Im Haus ist ein Tisch aufgestellt mit einer Jesusfigur und einigen Jüngern darauf, davor stehen Kerzen und eine geschmückte Girlande mit der einzigen Deko, die die Leute hier haben, Weihnachts Lametta, Sterne und total kitschiger Kruscht. Eigentlich wird bei dem Fest auch getanzt, aber da vor kurzer Zeit ein Familienmitglied der Familie gestorben ist, bleibt die Musik heute aus, Masato getrunken wird natürlich trotzdem.
Es ist eine schöne, interessante Zeit des Jahres, auch wenn sie sich weniger gut zum Arbeiten und Projekte entwickeln eignet.
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